Lehre
Empirisches Projekt
Über einen Zeitraum von zwei Semestern haben wir in einem Empirischen Projekt1 gemeinsam mit Student:innen über Träume gelesen und geforscht. Die Teilnehmer:innen haben dann selbstständig Felder erschlossen und mit qualitativen Methoden Projektberichte erarbeitet. Julia Haronska hat die dabei entstandenen Arbeiten zusammengefasst.
„Was habe ich heute geträumt?“ ist die erste Frage, die sich der Künstler Peter Krahé seit fünf Jahrzehnten täglich nach dem Aufwachen stellt. Aus dem Wunsch heraus, die fesselnde Wirkung der Verzerrung der Wirklichkeit, die er in seinen Träumen erlebt, mit der Öffentlichkeit zu teilen, greift er auf die Praxis des Zeichnens zurück, um mit Hilfe von Stift und Papier einen Eindruck seiner surrealen Traumerlebnisse zu verschaffen. Wie genau er dabei vorgeht, und welche Rolle Materialien bei dieser Herstellung und Produktion von Traumbildern spielen, wie sie als „Mitspieler“ wirksam werden – mit dieser Frage beschäftigt sich eine Studentin in ihrem empirischen Projekt. Sie zeigt auf, wie Krahés Zeichnungen zur Verstetigung und Kommunizierbarkeit von Traumbildern in verschiedenen Kontexten beitragen und für den Betrachter eine Eigenwirksamkeit entfalten.
„Die Blumen und Pflanzen beschreiben Deine Gefühle.“ In einer weiteren Arbeit untersucht ein Student, wie Mitglieder eines Online-Esoterikforums versuchen, ihre eigene Deutungsautorität und Glaubwürdigkeit herzustellen, während sie die Träume anderer Mitglieder deuten. Zudem beschäftigt sich diese Arbeit auch damit, ob diese Deutungen angenommen werden und wie das gelingt oder misslingt. Als Methode wählt der Autor hierfür eine Netnografie, um sich die Forumsdiskussionen genauer in ihrem eigenen Webseiten-Milieu anzuschauen und diese auch in einen größeren Zusammenhang der Theoriearbeit über Esoterik einzuordnen. Die Arbeit konnte zeigen, dass trotz gesamtgesellschaftlicher Abkehr von religiösen Autoritätspersonen im Bereich der Spiritualität in dem betrachteten Unterforum für esoterische Traumdeutung äußere Autorität eine große Rolle spielte. Die Techniken der Autoritätsherstellung waren die Einbringung von eigenem spirituellem Wissen, die Verwendung von spezialisiertem Wissen, die Herstellung eines Profils, die Darstellung einer kompetenten Persönlichkeit, die Demonstration von Selbstsicherheit, Unabhängigkeit und Selbständigkeit und das Darstellen der eigenen Einschätzungen als unumstößliche Tatsache.
Selbst zum Oneironauten werden – Klarträumen lernen. Das wollte eine Studentin im empirischen Projekt versuchen. Sie hat deswegen einen auto-ethnografischen Selbstversuch gestartet, wobei sie sich besonders darauf konzentriert hat, was mental, körperlich und materiell nötig ist, um in den Zustand des bewussten, kontrollierbaren Träumens zu gelangen. Es stellt sich heraus, dass Klarträumen gar nicht so leicht ist – sie hat es nicht geschafft, im Forschungszeitraum einen echten luziden Traum zu haben. Trotzdem hat sie einige interessante Traumerlebnisse gehabt, die dann in der Arbeit besprochen wurden. Besonders auffällig war für die Studierende, dass Reality Checks (also Praktiken des sich selbst mit Handlungen in eine selbstkritische Haltung zum eigenen Geisteszustand – wach oder schlafend – Versetzens) bei ihr nicht besonders gut funktionierten, sie aber allein durch die intensivere Auseinandersetzung mit ihren eigenen Traumpraktiken bereits mehr Traumerinnerungen und intensivere Träume erleben konnte.
„Lasst uns hoffen, dass sich noch mehr Klarträumer melden, die auch zum Treffen kommen wollen!“ – Wie sich der Austausch in Online-Foren auf Klarträumer auswirkt, war der Untersuchungsgegenstand einer weiteren Studentin. Die interaktive Herstellung von Expertentum in einem Klartraum-Onlineforum mit vielen tausend Mitgliedern, das Herausarbeiten impliziter Rangordnungen und Organisationsstrukturen und die Beschäftigung mit der Herstellung einer gemeinsam geteilten, aber auch individuell differenzierten Identität als Klarträumer standen bei dieser Arbeit im Vordergrund. Besonders auffällig war für die Studentin dabei die Neigung der Forenmitglieder, symbolische Identitätsarbeit über Alias, Profilfoto und Signatur herzustellen, als auch das Einnehmen verschiedener Rollen (z.B. Neuling, Experte, Tagebuchschreiber) im Gruppengefüge des Forums, das dann auch in Offline-Präsenzveranstaltungen und in individuellen Auseinandersetzungen mit dem Thema „Luzides Träumen“ auf die Mitglieder rückwirkt.
Bin ich eigentlich noch ich selbst, wenn ich träume? Oder bin ich nur, was der Traum ist? Was ist der Traum eigentlich? Und was ist wirklich? Was ist das Verhältnis von Selbst, Wirklichkeit und Traum? Diese philosophischen Fragen liegen uns allen nahe, wenn wir uns länger mit Träumen beschäftigen. Das war auch für einen Studenten der Fall, der daraufhin in einem Gruppengespräch die Meinungen und Haltungen verschiedener Personen zu diesen Fragen erforscht hat. Er zeigt auf, dass wie wir unser Träumen wahrnehmen – z.b. als etwas Subjektives – immer bereits kulturell bedingt ist und die neuropsychologische Perspektive nur eine von verschiedenen kontemporären Beschreibungen für unser Traumerleben bietet.
Ein Pizzaabend mit Träumen – Wussten Sie, dass Ihre Träume nicht nur Ihre innere Welt prägen, sondern auch Einfluss auf Ihre sozialen Beziehungen nehmen? Die Durchführung eines Gruppeninterviews zeigte, dass Träume mehr sind als nächtliche Erscheinungen – sie ermöglichen ein tieferes Verständnis von zwischenmenschlichen Interaktionen und sozialen Beziehungen. Achten Sie einmal darauf, wie Ihre Traumerlebnisse Ihre Kommunikation und Beziehungen formen. Wem erzählen Sie von dem Traum und wem bewusst nicht? Wovon hängt dies ab und welchen Einfluss hat die Handlung des Traums darauf? Träume eröffnen neue Perspektiven auf soziale Interaktionen und sind allgegenwärtig – man muss nur zuhören, um ihre Präsenz zu erkennen.
“I decide to tell him I’m dreaming, but he simply refuses to acknowledge my claims!“ –Klarträumer*innen auf der Social Media-Plattform Reddit berichten von ihren Begegnungen mit Gestalten in ihren Träumen und versuchen gemeinsam, deren Existenz in ihren Träumen für sich einzuordnen. Es lassen sich dort sehr gespaltene Meinungen darüber beobachten, wer Traumcharaktere sind und inwiefern sie einen Teil des Selbst darstellen. In diesem Projekt beschäftigt sich eine Studentin mit zwei Dingen: Dem Umgang von Klarträumer*innen mit ihren Traum-Gestalten im Traum und den Umgang einer Social Media-Community (Reddit) miteinander im Austausch über diese Traumbegegnungen. Traumcharaktere sind stur und lassen sich häufig trotz Luzidität oft nicht komplett kontrollieren, was den Anschein geben kann, sie wären nicht Teil des Selbst. Wie wird die Grenze zwischen dem Selbst und den Traumcharakteren von Reddit-Nutzer*innen wahrgenommen? Diese Arbeit zeigt auf, wie stark sozial unser Umgang mit unseren Traumgestalten im luziden Träumen ist.
„My nightmare ruined both of our nights, I’m not even sure he could sleep afterwards, I think he’s being kind!“ – Dieses studentische Forschungsprojekt untersucht die sozialen Dimensionen von Träumen und deren Auswirkungen auf das Miterleben von anderen Personen. Anhand von Fallbeispielen von Albträumen, in denen Emotionen und körperliche Reaktionen im Schlaf auftreten, zeigt die Arbeit, dass Träume nicht isoliert oder asozial sind, sondern viel mehr soziale Interaktionen beeinflussen können. Das Ko-Erlenen von Träumen, bei dem mitanwesende Personen die Emotionen und körperlichen Rektionen eines träumenden Körpers wahrnehmen, interpretieren und darauf reagieren, ist zentrales Thema der Arbeit. Die Ergebnisse zeigen, dass Emotionen im Traum in der realen Welt wahrgenommen werden können und eine Verbindung zwischen dem individuellen Traumerleben und der Realwelt herstellen. Dieses Ko-Erleben erweitert das Verständnis von Träumen als soziale Phänomene und legt nahe, dass Träume ein wichtiger Gegenstand für die soziologische Forschung sein können. Des Weiteren betont die Arbeit die Bedeutung des „feeling body“ und fordert die Integration des Traumes in das konkrete Interesse der Soziologie.
„Über den Körper mit dem inneren Elefanten in Kontakt kommen“ – so beschreibt eine Hypnosetherapeutin für eine Studentin den Vorgang, sich hypnotisieren zu lassen. Was genau für körperliche Praktiken zum hypnotisieren Lassen dazugehören, was für eine leibliche Erfahrung die Hypnose ist, und wie genau die Interaktion zwischen Hypnotiseurin und Klientin in der Hypnosesitzung abläuft, damit beschäftigt sich der Projektbericht dieser Studentin. Sie stellt fest, dass die Hypnose nicht nur körperlich, durch aktive Entspannung hergestellt wird, sondern auch körperlich, durch aktive Bewegungen und eine veränderte Körperposition beendet. Während bzw. in der Hypnose scheint es mehrere Trance-Leiber zu geben (gegenwärtig und imaginiert), zwischen denen während der Hypnose gewechselt wird, jedoch nur einen physischen, gegenwärtigen Körper, der als Kommunikationsmedium für die Interaktion mit der Hypnosetherapeutin zur Verfügung steht.
- Empirisches Projekt – wie geht das?
Ab dem Wintersemester 2022 haben wir eine ganzjährige praxisorientierte Lehrveranstaltung für Master-Studierende angeboten, die etwa ein Viertel der gesamten Studienleistung im Master ausmacht – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Abschluss also. In diesem sogenannten empirischen Projekt haben wir gemeinsam wissenschaftliche Texte übers Träumen gelesen und den Studierenden die Möglichkeit gegeben, ihre eigenen Forschungsprojekte zum Thema zu entwickeln und durchzuführen.
In gemeinsamen Daten-Auswertungs-Sitzungen und Diskussionsrunden sowie in einem zugehörigen Tutorium konnten so mögliche Forschungsgegenstände rund ums Träumen entdeckt werden. Die Studierenden haben sich dafür verschiedene Bereiche (Felder) des Alltags angeschaut, in denen das Träumen und auch verwandte Phänomene eine Rolle spielen. Diese identifizierten Themen und Subkulturen haben sie anschließend mit ihren Fragestellungen konfrontiert und letztlich auch mit verschiedenen qualitativen Methoden (z.B. in Interviews, teilnehmenden Ethnografien, autoethnografischen Selbstversuchen, oder Fokusgruppen) untersucht. Die dabei gewonnenen Materialien wurden immer wieder in der Gruppe diskutiert und anschließend von den Studierenden ausgewertet.
Qualitative Methoden, die in diesem Projektseminar verwendet wurden – also z.B. biografische und Experten-Interviews, oder auch das Teilnehmen und Erlernen von bestimmten Praktiken – zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich vor allem mit den Eigenschaften von Phänomenen und Prozessen beschäftigen (“wie etwas ist” bzw. abläuft – nicht so sehr, wie oft und mit welcher Verteilung etwas auftritt). Dafür arbeitet diese Art der Forschung jedoch mit einer kleinen Anzahl von Personen oder einem beschränkten Bereich des Alltagslebens als Bezugsrahmen. Es handelt sich bei den Ergebnissen qualitativer Forschung folglich um Theorien kurzer oder mittlerer Reichweite – also keine großen Gesellschaftstheorien, sondern kleine Theorien beispielsweise über eine Subkultur oder eine bestimmte Verhaltenspraxis. Das war auch für die Forschungsvorhaben unserer Studierender der Fall.
Am Ende dieses ganzjährigen Unterfangens stand abschließend der eigene Forschungsbericht: Studierende sollten auf ca. 30 Seiten zeigen, was die Vorgehensweisen und Ergebnisse ihrer Untersuchungen waren. Sie sollten ihre Überlegungen außerdem in einen größeren theoretischen Kontext einordnen und mit bestehenden Theorien in der Soziologie verbinden. Die spannenden Themen dieser intensiven Auseinandersetzung mit dem Träumen möchten wir Ihnen hier kurz vorstellen. ↩︎